Das Missverständnis der reflektierten Energie auf Übertragungsleitungen
Vorwort
Nachdem ich bisher noch keine “vernünftige” Behandlung der Verhältnisse am Leitungseingang gefunden habe, habe ich mich mal selber hin gesetzt und versucht die Bedingungen dort herzuleiten. Ist eigentlich nicht schwierig, wird aber in den Lehrbüchern nicht behandelt. (Jedenfalls nicht in denen, die ich bisher in den Händen hatte.) Wenn also jemand auf diese Formel schaut und sie erkennt, der mag mich gerne zu den entsprechenden Literaturquellen führen. Wink
Grundsätzliche Betrachtungen
Bevor es ans Rechnen geht erst einmal ein paar Worte über die Voraussetzungen. Nur wenn die geklärt sind, läßt sich später auch über die Ergebnisse diskutieren.
Welches Modell verwenden wir?
Bei dieser Betrachtung wird, wie in den meisten theoretischen Betrachtungen auf diesem Gebiet, für den Sender von einer idealen Spannungsquelle der Spannung Ug und einer Serienimpedanz Zi und der sich daraus ergebenden Ausgangsspannung U1, sowie einer Übertragungsleitung mit dem Wellenwiderstand ZL ausgegangen.
Im Sender haben wir ein quasistationäres Modell bei dem nur die momentane Spannung und der momentane Strom definiert sind und keinerlei Effekte durch Wellenausbreitung im Sender eine Rolle spielen.
Auf der Leitung dagegen haben wir eine Beschreibung mit hin- und rücklaufenden Wellen auf der Leitung. Die Herleitung der hin- und rücklaufenden Wellen aus der Telegraphengleichung sowie die Herleitung des Reflexionsfaktors am Lastende bei bekannter Lastimpedanz setze ich hier als bekannt voraus.
Wir benutzen also ein System aus zwei Modellen mit jeweils unterschiedlichen Beschreibungsmodellen und müssen nun einen geeigneten Übergang von dem einen in das andere Modell schaffen.
Wie kommen wir nun vom Sender in die Leitung? Man kann nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. Man kann nur Größen betrachtet, die in beiden Modellen vorhanden sind und dort auch in gleicher Weise verwendet werden.
Im Sender haben wir nur die Momentanwerte von Strom und Spannung zur Verfügung. Also müssen wir auf der Leitung auch mit Strömen und Spannungen rechnen und können nicht das Modell der elektromagnetischen Wellen benutzen.
Für die Leitung heißt das also, daß sich die elektromagnetischen Wellen auf der Leitung durch Strom- und Spannungswellen beschreiben lassen müssen. Das ist z.B. für elektromagnetische TEM-Wellen der Fall (wie z.B. im [Dethlefsen/Siart] Abschnitt 2.5.2 S. 40f. ausgeführt). Allerdings erfüllen die uns hier interessierenden Transportleitungen diese Bedingung - zumindest in sehr guter Näherung. (Die Puristen behalten hier also im Kopf, daß diese Bedingungen nur näherungsweise und auch nicht immer erfüllt sind.)
Nur wenn wir also die elektromagnetischen Wellen auf der Leitung durch Strom- und Spannungswellen beschreiben können, können wir in diesem Modell den Übergang vom Sender in die Leitung beschreiben.
Was ich hier rechne ist das selbe, wie man am Lastende rechnet um den Reflexionsfaktor dort zu berechnen, nur um die Generatorspannung erweitert.
Ich rechne hier im komplexen Modell wie es die Elektrotechnik normalerweise verwendet. Wenn nichts anderes gesagt wird, sind alle Größen mit Großbuchstaben komplexe Werte.
Der Übergang von dem Sender in die Leitung und umgekehrt
An dieser Übergangsstelle kann man dann nur mit Kirchhoff argumentieren. Strom und Spannung müssen stetig von einem Modell ins andere fortgesetzt werden. Oder mit anderen Worten
$$ U_1=U_h(-l) + U_r(-l) $$und
$$ I_1 = I_h(-l) - I_r(-l) $$Im Generator haben wir noch die Beziehungen
$$ U_1 = U_g { Z_L \over { Z_i + Z_L }} $$und
$$ I_1 = {{ U_g - U_1} \over Z_i } $$und auf der Leitung die durch den Wellenwiderstand erzwungenen Beziehungen
$$ I_h(z) = { U_h(z) \over Z_L } $$und
$$ I_r(z) = {U_r(z) \over Z_L }$$Setzt man das ineinander ein und löst nach Uh(-l) auf, dann bekommt man:
$$U_h(-l) = { Z_L \over { Z_i + Z_L }} U_g + {{ Z_i - Z_L } \over { Z_i + Z_L }} U_r(-l)$$Was können wir aus dieser Gleichung heraus lesen?
Erste Blicke auf die Gleichung und die sich daraus ergebenden Aussagen und Konsequenzen:
- Im Einschwingfall, wenn Ur noch nicht vorhanden ist, haben wir den virtuellen Spannungsteiler mit Zi und der Leitung.
- Der Anteil der re-reflektierten rücklaufenden Welle sieht auch vertrauenerweckend aus. Ohne Generatorspannung haben wir für die rücklaufende Welle am Leitungseingang das selbe Reflexionsverhalten wie am Lastende - was ja auch zu erwarten ist.
- Im angepaßten Fall ist Uh sofort eingeschwungen.
- Die hinlaufende Welle wird von der rücklaufenden Welle beeinflußt wenn der Sender nicht an die Leitung angepaßt ist.
- Die rücklaufende Welle wird im Allgemeinen nicht zu 100% re-reflektiert. Im angepaßten Falle sogar zu genau 0%, also gar nicht.
Die ersten 3 Punkte stimmen mit den üblichen Lehrbuchaussagen überein. Hier sind keine neuen Erkenntnisse entstanden. Aber die Gleichung steht auch nicht im Widerspruch zu diesen Aussagen - auch eine wichtige Erkenntnis.
Der vierte Punkt betrifft die Voraussetzungen, die im Allgemeinen bei der Argumentation an dieser Stelle gemacht werden. Es wird in der Regel davon ausgegangen, daß die hinlaufende “Wirkleistung” konstant ist. An dieser Gleichung sieht man, daß das im allgemeinen Fall gar nicht der Fall ist.
Aber der letzte Punkt ist der entscheidende. Hier wird das Verhalten der rücklaufenden Welle am Leitungseingang beschrieben. Dies hat direkte Konsequenzen auf die Antwort auf die Frage was mit der rücklaufenden Energie auf der Transportleistung passiert. Dies soll aber in einem späteren Abschnitt ausführlich behandelt werden.
Die reflektierte Energie
Nun wird häufig ausgeführt, daß durch die hin- und rücklaufenden Wellen jeweils ein “Leistungsfluß” auf der Transportleitung entsteht. Korrekt formuliert müßte man besser sagen, daß auf der Leitung ein hin- und ein rücklaufender Energiefluß existiert.
Den Strom/Spannungswellen auf der Leitung kann formal in eindeutiger Weise ein entsprechender Energiefluß zugeordnet werden. (Was an dieser Stelle nicht heißt, daß ein solcher Energiefluß auch existieren muß!) Und da die Wellen, wie man aus zahlreichen Effekten beobachten kann, offenbar auf der Leitung vorhanden sein müssen schließt man, daß dann auch diese Energieströme vorhanden sein müssen. Das Bild funktioniert meist sehr gut. Nur wenn man z.B. versucht zu erklären, was am Leitungseingang mit der vom Lastende reflektierten Energie passiert, kommt man offenbar in Schwierigkeiten.
Ein kleiner Einschub zum Thema Energie und Leistung:
Energie und Leistung sind hier streng definierte Begriffe. (Zur Sicherheit: Hier geht es nicht um Wirk- oder Blindenergie bzw. -leistungen, sondern um die physikalischen Grundformen davon).
- Energie ist die Fähigkeit eines Systems Arbeit zu verrichten. Für sie gilt der Energieerhaltungssatz der Physik - ein sehr mächtiger Satz!
- Die Leistung ist eine von der Energie abgeleitete Größe. Leistung ist definiert als die Änderung des Energieinhalts eines Systems pro Zeiteinheit oder aber durch die durch einen Punkt oder Fläche hindurch tretende Energiemenge pro Zeiteinheit.
- Leistungen darf man im Allgemeinen nicht so einfach gegeneinander verrechnen. Im Gegensatz zum Energieerhaltungssatz gibt es einen entsprechenden Satz über die Erhaltung der Leistungen nicht.
Wer also von Leistungen spricht, spricht immer gleichzeitig auch von den dabei beteiligen Energieänderungen. Da man Leistungen nicht gegeneinander verrechnen kann, integriert man diese über ein Zeitintervall auf und bekommt die in diesem Zeitintervall umgesetzten Energiemengen. Und für diese Energiemengen gilt dann der Energieerhaltungssatz (der viele unsinnige Erklärungsversuche von vornherein ausschließt - eine sehr praktische Keule. ;-) )
Noch ein Wort zur Leistung: Die Leistung ist definiert an einem Ort oder über ein System. Streng genommen kann es also eine fließende Leistung nicht geben. Die Leistung entsteht durch “fließende” Energie. Fließende Leistung wäre quasi die 2. Ableitung der Energie nach der Zeit … Vielleicht ein etwas pedantischer Einwand, weil die Argumentation mit Leistungsflüssen intuitiv meist auch klappt, aber korrekt ist es nicht.
Wenn also von Leistungsflüssen spricht, meint man eigentlich Energieflüsse. Um den Energieerhaltungssatz als Werkzeug zur Verfügung zu haben, argumentiere ich also nicht mit Leistungen, sondern lieber mit den dahinter stehenden Energien.
Der Widerspruch
Die beiden Eingangs erwähnten Beschreibungsmodelle nehmen diese Energieflüsse als gegeben an und behaupten, daß die ganze rücklaufende Energie am Leitungseingang wieder in vorlaufende Energie umgewandelt wird. Sie sind sich nur uneinig darüber, wo die rücklaufende Energie in vorlaufende Energie umgewandelt wird. Dagegen zeigt die hier hergeleitete Gleichung, daß i.d.R. nur ein Teil der rücklaufenden Welle am Leitungseingang wieder in Richtung Lastende re-reflektiert wird. Da man die rücklaufende Energie über die rücklaufende Welle definiert hat, heißt das, daß nur ein Bruchteil der rücklaufenden Energie reflektiert wird. Beide o.A. Theorien haben also Unrecht, denn beide wollen erklären was jeweils mit 100% der Energie passiert. Ihre Aussage bezieht sich also nicht nur auf einen Teil, sondern auf die gesamte rücklaufende Energie.
Wenn, wie hier gezeigt, die rücklaufende Welle, nur zu einem Teil am Leitungseingang wieder zurück in Richtung Lastenende reflektiert wird, stellt sich die Frage was dann eigentlich mit dem dort nicht reflektierten Anteil der Welle passiert. Ordnet man der Welle diesen Energiefluß zu heißt das ja, daß ein Teil der rücklaufenden Energie wegen dem Energieerhaltungssatz nur den einen Ausweg hat, nämlich weiter laufen in den Sender.
Prima, werden die Anhänger der These, daß die Energie zurück in den Sender läuft, sagen. Dann korrigieren wir unsere Aussage halt ein wenig und sagen, daß nur der nicht reflektierte Teil in den Sender zurück läuft.
Leider gibt es aber Anordnungen, die zeigen, daß auch das nicht stimmen kann:
Die kurzgeschlossene Lambda-Viertel Leitung
Mein Lieblingsbeispiel ist die kurzgeschlossene Lambda-Viertel Leitung am an die Leitung angepaßten Senderausgang. Wie in jedem Lehrbuch vorgerechnet wird, arbeitet der Sender hier im eingeschwungenen Zustand gegen einen virtuellen Leerlauf. Der Innenwiderstand des Senders ist hier also konstant stromlos. Ohne Strom wird in ihm keine Energie in Wärme umgesetzt - er bleibt kalt. Das kann leicht gemessen werden.
Umgekehrt kann aber keine Energie durch diesen Innenwiderstand fließen, ohne daß ein Teil davon in diesem Widerstand in Wärme umgesetzt wird. Mit anderen Worten - in diesem Bauteil kann es jetzt definitif keine zwei gegenläufigen Energieströme geben, die sich gegeneinander aufheben. Selbst wenn es die gäbe würde jeder für sich hier Energie in Wärmeenergie umsetzen müssen. An dieser Stelle gibt es also schlicht und einfach keinen Energiefluß.
Andererseits wird ja auf der Leitung ein hinlaufender Energiestrom angenommen, der dann an der Kurzschlußstelle reflektiert wird. Nur wo soll die reflektierte Energie nun hin? Zurück zum Leitungseingang wird sie nicht reflektiert - sie kommt aber auch im Sender nicht an.
Also gibt es entweder einen geheimnisvollen (weil innerhalb dieser Modelle nicht erklärbaren) weiteren Prozeß, der die Energie dann doch reflektiert, oder aber irgend etwas an der Beschreibung der Situation durch das Modell muß falsch sein.
Wo liegt der Fehler?
Die Annahme daß ein Prozeß außerhalb des Modells, der in geheimnisvoller Weise die Energie doch reflektiert, ist höchst suspekt. Wird so etwas gebraucht, dann ist normalerweise das Modell nicht korrekt und muß verbessert werden. Dies schließe ich also erstmal aus.
Schauen wir uns also unser Modell an:
Diverse Effekte auf der Übertragungsleitung lassen sich durch diese Wellen auf ihr und auch nur durch diese Wellen beschreiben. Man kann also sicher davon ausgehen, daß es diese Wellen auch gibt.
Die Reflexionsbeziehungen an den Leitungsenden wurden aus den physikalischen Grundgesetzen hergeleitet. Innerhalb dieses Theoriengebäudes sind das also wahre Aussagen an denen niemand zweifeln kann.
Bleibt nur noch die Zuordnung der hin- und rücklaufenden Welle zu einem realen Energiestrom als Fehlerquelle. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.
Fazit
Die strenge Zuordnung jeweils eines Energiestromes zu den auf der Übertragungsleitung hin- und rücklaufenden Wellen führt zu Widersprüchen. Daher ist diese strenge Zuordnung falsch. Die Betrachtung des Energiestroms auf der Leitung ist daher erst bei der Betrachtung des überlagerten Zustandes zulässig (und dann auch richtig).
Mit anderen Worten: Es gibt keine real hin- und rücklaufenden Energieströme, und damit vorwärts oder rückwärts gerichtete Leistungen auf der Leitung. Die ganze Diskussion, was mit hin- und rücklaufender Energie auf der Leitung passiert ist also eine künstliche.
Nichtsdestotrotz existieren aber die hin- und rücklaufenden Wellen auf der Leitung. Die sich daraus ergebenden Effekte sind meßbar und betreffen auch die realen Geräte in Form von Sender und Antenne. Nur können diese Effekte nicht durch Energiebetrachtungen erklärt werden, sondern müssen über die Welleneffekte betrachtet werden, die aber wiederum einen Effekt haben können, der energetische Auswirkungen hat.
Die weiterführenden Gedanken für den eingeschwungenen Zustand finden sich im Folgeartikel Eingeschwungener Zustand am Senderausgang.
© Matthias Leonhardt - DJ1ML, 2011
Links/Quellen:
Herleitung der Reflexionsbedingungen am Leitungseingang - Erste Diskussion dieses Artikels bei db3om
Fließt reflektierte Energie in den Sender zurück oder nicht? - Weitere vorbereitende Diskussion bei db3om
Physikalische Realität hin- und rücklaufender Leistungen? - Initiale vorbereitende Diskussion bei db3om
Dethlefsen, Siart: Grundlagen der Hochfrequenztechnik, Oldenbourg Verlag, 2. Auflage 2006, ISBN 3-486-57866-9
Versionshistorie
1.1.0 | 01.08.2011 | Kleinere Ergänzungen, die die Klarheit verbessern sollen. Optimierung der Formulierungen beim Einschub über die Energie und verschieben eines Textteils hinter die Überschrift “Widerspruch”. |
1.0.1 | 26.07.2011 | Umstellen der Formeln auf MathJax (archiviert hier: Das Missverständnis der reflektierten Energie auf Übertragungsleitungen v1.0.1) |
1.0.0 | 25.07.2011 | Erste Fassung nach Diskussion im Internet |